Internetseite von Jörg Zink
Die Internetseite von Jörg Zink

Erst die Liebe zum Feind schafft Frieden

Die Bergpredigt gilt bei vielen als Beispiel unerreichbar hoher Moral, und es heißt, man könne mit ihr die Welt nicht regieren. Gut möglich, dass »man« es nicht kann. Aber wir, die nach Jesus Christus heißen, könnten vielleicht erkennen, dass es nicht um Moral geht, wenn Jesus sagt: »Liebt eure Feinde! Betet für eure Verfolger! So werdet ihr Töchter und Söhne sein eures Vaters im Himmel.«, denn er meint eine Befreiung: die Befreiung vom Zwang, wie selbstverständlich dem Feindlichen feindlich und der Gewalt gewaltsam zu begegnen.

Liebe zum Feind und Gewaltlosigkeit, wie Jesus sie fordert, bedeuten: Schau dir deinen Gegner gut an. Er ist niemals das Böse schlechthin, du musst unterscheiden lernen: Vor dir steht ein Täter, der Unrecht begeht, das ist das eine. Vor dir steht aber auch ein Mensch, das ist das andere, und das verbindet euch trotz aller Feindschaft. Wenn sich das Bild, das du von ihm hast, auf das des Täters beschränkt, vergibst du die Chance auf eine versöhnliche Lösung.

Jesus sagt darum: »Liebt eure Feinde! Weitet euren Blick für sie und nehmt sie wieder als Menschen wahr. Versucht zu verstehen, warum sie so bedrohlich denken und handeln, und welchen Anteil womöglich ihr selbst daran habt.«

Es ist eine Frage der Weisheit, den Feind so zu achten, dass man ihn versteht und dieses Verstehen einbringen kann in die Begegnung mit ihm, denn das ist der einzige Weg zum Frieden. Wir können die eine Welt mit ihren vielen einander fremden Staaten, Völkern und Gruppen nur im Frieden bewohnen, wenn wir unser Bild nicht einschränken auf das Unrecht, das manche von ihnen in unseren Augen begehen. Wir müssen sie im eigenen Denken und im Dialog mit ihnen herauslösen aus dem Bild des Feindes, und wirkten sie noch so erschreckend auf uns.

Den Feind lieben


Den Feind lieben heißt gewiss nicht sich anbiedern oder unterwerfen, es heißt gewiss nicht Grausamkeit hinnehmen, ohne sich zu wehren und den Verfolgten zur Seite zu stehen. Aber es heißt sehen, dass auch unsere Feinde Menschen sind wie wir: fehlerhaft, verängstigt, irrend, gebunden an Interessen und Vorurteile. Den Feind lieben – das kann, vor allem wenn es nur mit halbem Herzen geschieht, auch misslingen. Aber Befriedung und Versöhnung sind erst zu erreichen, wenn wir bereit sind, dieses Risiko einzugehen.

Den Feind lieben – das heißt sich von Unrecht oder Bedrohung nicht blenden lassen: nicht in Panik geraten, nicht die erstbeste gewaltsame Antwort für die letztmögliche halten und sich nicht in Ideologien retten, die den eigenen Standpunkt zum einzig erlaubten erklären.

Den Feind lieben – das heißt in den Spiegel sehen: die eigene Antwort immer vergleichen mit dem Angriff des Feindes und darauf achten, nicht ungewollt ähnlich zu handeln wie er.

Den Feind lieben – das heißt unterscheiden zwischen dem Unrecht und dem Menschen, der es begeht: das Unrecht bekämpfen und zugleich versuchen, den Täter womöglich zum Freund zu gewinnen.

Den Feind lieben – das heißt hinausdenken über die Feindschaft: davon ausgehen, dass Menschen sich ändern können, Feindschaften beigelegt und Konflikte versöhnlich beendet werden können.

Des anderen Last tragen


Die allererste Bedingung für die Liebe zum Feind ist, seine Existenz nicht mehr in Frage zu stellen: nicht mehr zu glauben, die Welt sei in Ordnung zu bringen, indem man ihn und Seinesgleichen verjagt oder beseitigt. Dieser Glaube ist noch immer sehr verbreitet – im Großen wie im Kleinen – und hört sich zum Beispiel so an:

Die Gottlosen sollten verschwinden, denn ohne sie wäre die Welt ein Garten Gottes. Die Christen vertraten durch lange Jahrhunderte diese Auffassung, und viel zu oft handelten sie danach.

Heute heißt dieser Satz immer öfter: Wenn es bei uns den Islam nicht gäbe oder wenigstens keine Islamisten, könnten wir in einem »christlichen Abendland« sicher und friedlich leben.

Oder er heißt, vielleicht sogar mit guten Gründen: Wenn es die Banken nicht gäbe, die Finanzmärkte und Heuschrecken der Globalisierung, dann könnte es gerechter zugehen in dieser Welt.

Und im Kleinen heißt dieser Glaube: Wenn es meine zänkischen Nachbarn nicht gäbe, die egoistischen Kollegen und die undankbaren Verwandten, könnte ich irgendwann vollkommen glücklich sein.

Nimmt man zusammen, wer von wem wünscht, es möge ihn nicht geben, dann bleibt am Ende wohl niemand mehr übrig. Wenn aber Frieden entstehen soll, müssen wir zuerst die Existenzberechtigung auch all der vielen Menschen anerkennen, von denen wir aus allen möglichen Gründen wünschten, es gäbe sie nicht.

Paulus nennt dies »das Gesetz des Christus« anwenden: »Einer trage des anderen Last – das heißt seine Dummheit, Gemeinheit, Müdigkeit, seine Vorurteile und Rechthaberei, auch seine Ablehnung –, so werdet ihr das Gesetz des Christus erfüllen.«

Praktisch bedeutet es zum Beispiel dies:

Der eine bedenke die Angst des anderen und versuche zu ergründen, was er selbst beiträgt zu ihrer Entstehung.

Der eine ertrage die Ablehnung durch den anderen und versuche, ihm in Güte das Verbindende aufzuzeigen.

Der eine erkenne die Vorurteile im Denken des anderen und versuche, ihm durch das eigene Vorbild die Augen zu öffnen.

Der eine anerkenne den Irrweg, auf dem sich der andere befindet, und suche mit ihm zusammen den richtigen Weg.

Der eine verstehe den Wunsch des anderen, die eigene Wahrheit des Glaubens allgemein durchzusetzen, und mühe sich ehrlich, ihm diesen gefährlichen Wunsch auszureden.

Der eine nehme die Schwierigkeiten des anderen ernst, gewohnte Ansichten und gelerntes Verhalten zu ändern, und übe sich in Geduld.

Der eine bedenke, worunter der andere leidet, schließe ihn nicht aus und laufe nicht vor ihm weg, sondern schließe ihn ein und halte bei ihm aus.

Der eine begreife die Last, die der andere sich selbst ist, und vergrößere sie nicht durch die Last der Verachtung.

Der eine sehe die Schuld, die der andere trägt, und verurteile ihn nicht, sondern trage und heile mit ihm gemeinsam die Folgen.

Wird die Existenz des anderen nicht mehr in Frage gestellt, eignet er sich nicht mehr als Feindbild, sondern wird zu einer Aufgabe, der man sich als Christ nicht entziehen kann. Man darf sich freilich nicht wundern, wenn man dann von keiner Seite Beifall bekommt. Wer Frieden stiften will, muss bereit sein, das eine oder andere der vielen Feindbilder selbst mitzuertragen, ohne die offenbar bis heute kaum jemand auskommen kann. Feindesliebe bedeutet dann, gerade denjenigen Menschen mit Achtung zu begegnen, zu deren Feindbild man selbst dabei wurde.

Solange das Tragen der fremden Last und die Liebe zum Feind als Utopien von Träumern gelten, darf niemand sich wundern, wenn all unsere Verhandlungen, Friedens- und Abrüstungskonferenzen bisher kaum etwas bewirken gegen die wachsende Feindseligkeit und die Aufrüstung in allen möglichen Konflikten. Denn selbst wenn der Einsatz von Waffen und von Gewalt manchmal unausweichlich erscheint zur Abwehr einer konkreten Gefahr – am Ende führt erst die wohlwollende Zuwendung zum Gegner, von der Jesus in seiner Bergpredigt spricht, uns näher zum Frieden auf Erden.


Jörg Zink, März 2015

Textbeitrag in:
Margot Käßmann und Konstantin Wecker (Hrsg.):
Entrüstet euch!
Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt

Texte zum Frieden
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015 (S. 153–157)

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