Internetseite von Jörg Zink
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»Was mir wichtig ist«

Dieser Text entstand, als Jörg Zink neunzig Jahre alt geworden war und ein Freund ihm vorschlug, aus dieser langen Sicht das Wichtige in seinem Leben kurz zu beschreiben.

Was mir wichtig ist

Ein kurzer Lebenslauf aus der Sicht des Neunzigjährigen

Ich bin kein Kind aus einem intellektuellen Elternhaus. Meine Eltern waren Bauern. Und Bauern besonderer Art, denn ihr Hof war gemeinsames Eigentum mehrerer Familien. Er stand in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, nach dem Ersten Weltkrieg, für einen Aufbruch, der für den Frieden in der Welt eintrat, für die Gerechtigkeit unter den Völkern, für die Naturnähe unter den Wirtschaftenden. Sie sind mit ihrem Versuch ganz natürlich gescheitert und so, als ich zwei und drei Jahre alt war, wie selbstverständlich beide gestorben.

Später lebte ich in einer Familie, die von einer neuen Mutter geführt wurde. Es war die Zeit des Nationalsozialismus, aber der erreichte uns Kinder nicht. Meine Mutter hasste Hitler und verwehrte ihm jeden Zugang zu unseren Seelen. Was sie nicht verhindern konnte, war, dass wir vier Brüder alle zum Kriegsdienst eingezogen wurden und einer der Brüder nicht mehr nach Hause kam.

Ich wollte kein Infanterist werden und meldete mich also freiwillig zur Fliegerei. Dort habe ich fünf Jahre Dienst getan und musste zum Glück keine Bomben werfen. Ich war Jagdflieger, genauer „Zerstörer“, drei Mann in einer Maschine. Als solcher habe ich in der Ostsee U-Boote aufgetrieben, die aus Russland kamen, und über dem Atlantik die schweren Maschinen der Alliierten, die deutsche U-Boote jagten. Von etwa 300 bis 400 Männern meines Geschwaders haben drei den Krieg überlebt. Mir war am Ende wichtig, mich künftig für den Frieden einzusetzen.

Also studierte ich Theologie. Dabei war das Wichtige nicht die Wissenschaft und die Theorie, sondern ich suchte die Anrede an die Menschen. Im Krieg hatte ich ihre Schicksale hinreichend miterleben können, und so wurde mir wichtig, was ihnen zum Leben half. Ich entschied mich gegen den Vorschlag eines Professors, der mir eine akademische Laufbahn empfahl, und wurde zu dessen Bedauern ein einfacher Pfarrer. Dass ich das war, hat meinem Leben einen Sinn verliehen, den ich nicht hoch genug einschätzen kann, nun es auf sein Ende zugeht.

Nach dem Examen schickte mich meine Kirche zum Unterrichten in schwierige Schulklassen, ohne dass ich darüber vorher etwas gelernt hatte. Meine erste Begegnung mit so einer Klasse der Nachkriegszeit war, dass sie mir entgegenriefen: „Wenn Sie meinen, Sie könnten uns in Religion unterrichten, dann setzen wir Sie auf den Schrank wie Ihren Vorgänger!“ Ich trieb Religion mit ihnen, indem ich sie lange Zeiten nur erzählen ließ von der Not ihres jungen Lebens in einem zerstörten Land. Und ich wanderte mit ihnen, mit Zelt und Kochtopf, die ganze Schwäbische Alb entlang. Später hat uns ein tiefes Vertrauen verbunden.

Die Folgezeit brachte mich zurück nach Tübingen als Lehrer der Theologie. Ich geriet noch einmal in ein Gefecht – mit einem Professor, der ein strammer Nationalsozialist gewesen war und nun das Evangelische Stift leitete. Als Seniorrepetent war ich Vertreter der Stiftsgemeinschaft, und als dieser Professor mit altgewohnten Überwachungsmethoden in das Geschehen im Stift einzugreifen begann, ging ich zu ihm und forderte ihn auf, die Leitung des Stifts niederzulegen. Anschließend war ich einige Semester an der Neustrukturierung des Stifts beteiligt.

Es folgten zwei Jahre in Esslingen in einer idealen Verbindung von Gemeinde- und Jugendarbeit, denn für mich wurde eine überschaubare Kirchengemeinde mit dem Auftrag des Bezirksjugendpfarrers verbunden. Das war eine Aufgabe, die mir auf den Leib geschneidert war und die ich mit Begeisterung erfüllte. Bis ein neuer Dekan nach Esslingen kam, der zuvor eine große Zentrale der Jugendarbeit geleitet hatte und nach einem Nachfolger suchte. Er fand, ich sei dafür der Richtige, und bestimmte mich, zunächst gegen meine eigene Neigung, die Leitung des Burckhardthauses zu übernehmen.

Das Burckhardthaus war eine Zentrale der Mädchenarbeit der Evangelischen Kirchen in Deutschland und hatte seinen Sitz im hessischen Gelnhausen und in beiden Teilen Berlins. Mich empfing eine starke Tradition erfahrener Frauen, die begonnene Jugendarbeit aber konnte ich nicht wie gewohnt weiter betreiben. Ich sollte verwalten und der Tradition folgen, und also spezialisierte ich mich auf den dort bestehenden Jugendverlag. Zusammen mit dem höchst begabten Theologen Ernst Lange lernte ich mich hinein in das Handwerk des Büchermachens.

Nur vier Jahre später wurde der erste Fernsehpfarrer von Württemberg, Ulrich Fick, an den Radiosender des Lutherischen Weltbunds nach Addis Abeba berufen und holte mich nach Stuttgart zurück, um an seiner Stelle beim Süddeutschen Rundfunk die evangelischen Beiträge des Fernsehprogramms zu gestalten. Dies blieb zwei Jahrzehnte lang meine Arbeit, und sie war am Anfang nicht einfach, denn niemand wusste, wie mit dem neuen Medium umzugehen sein würde, und jede Sendung war ein gewagter Versuch. Vieles ging fehl, aber insgesamt war es eine Aufgabe nach meinen Wünschen. Das Wichtige daran war, dass sie den Gedanken der Menschen und eines jeden von ihnen gewidmet war.

Nach kurzer Einarbeitung folgten bald die „Worte zum Sonntag“, die ich als besonders schwierig zu bestehen und zu gestalten empfand. Immerhin ging es darum, sich auf einem zunächst ziemlich einsamen Sendeplatz in die Zeitgeschichte einzudenken und Einfluss zu nehmen auf ihren Lauf. Rund 120 „Worte zum Sonntag“ habe ich in den 1970er und 1980er Jahren gesprochen und habe vor ihrem Hintergrund mitwirken können an der Entwicklung der Kirche und der Verkündigung des Evangeliums in beiden Teilen unseres Landes.

Einen zweiten Schwerpunkt bildeten damals zahlreiche Reisen in den Nahen Osten, um die Geschichte dieses uns so fremden Raums zwischen Türkei und Iran, Syrien und Jemen für das Fernsehen zu erschließen und in all diesen Ländern Filme zu drehen. Zugleich baute ich mit einer leistungsfähigen Kamera ein Archiv von Photos auf, das am Ende wohl 20 000 Bilder umfasste. Hier war mir wichtig, eine lange, bis heute bedeutsame Geschichte mit Hilfe von Filmen und Bildbänden nachvollziehbar und wieder verständlich zu machen.

In alledem war mir daran gelegen, den Menschen unseres Sprachraums die Bibel in einer verständlichen Sprache nahe zu bringen und zu lesen zu geben. Im Austausch mit Jugendlichen aus Berlin und der DDR hatte ich festgestellt, wie sie mit großer Mühe die Bibel zu lesen versuchten, und so begann ich in langer Arbeit, alle biblischen Texte in eine heutige Sprache zu übertragen und die Ergebnisse meiner Reisen in Form von bebilderten Büchern über den Hintergrund und die Entstehung der biblischen Texte zu publizieren.

Im Lauf der Zeit ergab sich daraus ein neuer Arbeitsbereich mit Büchern und anderen Schriften. Ich stellte mir die Menschen vor, die meine Filme gesehen und auf sie reagiert hatten, und versuchte nun, den weiten Bereich des Evangeliums mit allen Lebens- und Gottesfragen, die es mit sich bringt, in schriftlicher Form darzustellen. Dass dies nah bei den Menschen, bei meinen Leserinnen und Lesern geschah, darauf kam es mir an, und dass meine Werkstücke am Ende als gelungen betrachtet werden konnten. Allmählich sind es wohl über zweihundert einzelne Titel geworden.

Noch etwas anderes war mir in diesen Jahren wichtig: Vor gut vierzig Jahren, als ich für längere Zeit in Stuttgart war, fiel mir auf, dass die Kinder und Jugendlichen bei uns weithin auf Beton und auf Teppichböden lebten, nicht aber im Umgang mit der Natur. Zusammen mit anderen Eltern aus unserem Stadtteil erhielten wir die Erlaubnis, auf dem Gelände einer Brauerei, einem früheren Luftschutzplatz mit verfallenden unterirdischen Gängen, eine „Jugendfarm“ einzurichten, einen Bauspielplatz und Kinderbauernhof. Wir bekamen ein großes Holzhaus geschenkt und bauten es an vielen Wochenenden gemeinsam aus zu einer Stallung für Pferde und Esel, mit Heuboden, mit einem Gruppenraum und einer Küche. Früh schon holten wir die Kinder aus der Umgebung dazu, und es entstand ein Dorf, das sie sich aus Stangen und Brettern selbst bauten. Eine Holzwerkstatt wurde gewünscht und weitere Ställe für Schafe und Zwergziegen, Hühner, Meerschweinchen und Kaninchen, dazu ein Garten für Blumen und für Gemüse. Inzwischen haben auf dem Gelände zwei Kindergärten ein bleibendes Zuhause gefunden, und bis heute, zwanzig Jahre nachdem ich die Leitung in andere Hände weitergab, gehe ich manchmal in seiner Nähe spazieren. Dann sehe ich, wie das Leben aus dieser frühen Bürgerinitiative blüht und sich bewegt, dass es mich immer wieder aufs Neue erfreut.

Als die Arbeiten für mein Amt zu einem Abschluss kamen, blieb auch in der Zeit meines Ruhestands noch viel zu tun, und so schrieb ich weiter an Büchern zu den mir wichtigen Themen, die mich schon ein Leben lang begleiten: Frieden, Gerechtigkeit, Schutz der Schöpfung und Bündnisse mit fremden Religionen – die Themen also, die heute jede öffentliche Arbeit mitprägen müssen.

Was mir also wichtig ist im Gedanken an die Zukunft unserer Kinder und Enkel? Es ist der Frieden zwischen den Völkern, der Frieden zwischen den Religionen, der Frieden zwischen den Menschen überhaupt. Es ist die Gerechtigkeit zwischen den Völkern, die Gerechtigkeit zwischen den Schichten der Bevölkerung, die Gerechtigkeit zwischen religiösen Gruppen. Es ist der Schutz der Schöpfung im behutsamen Umgang mit ihr. Und es ist vor allem, als die neue Aufgabe für das 21. Jahrhundert, das Gespräch zwischen den Religionen, den großen Weltreligionen und den Menschen verschiedener Bekenntnisse. Dass es auf diesem Feld zur Bescheidenheit bei den Kirchen und zu sichtbaren, wirksamen Fortschritten kommt: Das ist mir wichtig.

Jörg Zink
Stuttgart im Frühjahr 2013