Internetseite von Jörg Zink
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Begegnung mit dem leisen Gott

Meditation auf dem Katholikentag 2004 in Ulm

Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des Herrn kam zu ihm: Was machst du hier, Elia? Er sprach: Ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet, und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen ...
Aber der Herr sprach zu ihm: Geh wieder deines Weges durch die Wüste nach Damaskus ...
1. Könige 19, 9.10.15

Dies ist die Geschichte von Elia, dem Propheten, der sein Amt, dessen Gefahr und Last nicht mehr tragen wollte und es Gott vor die Füße warf. Es war rund 800 Jahre vor Christus. Das Reich Davids war zerfallen, und die Israeliten lebten in zwei getrennten Staaten, da kam aus der Wüste im Osten Elia, der Prophet. Er kam aus dem heutigen Jordanien in die Städte Israels und sah ein sattes Volk, eine korrupte Priesterschaft, ein selbstherrliches Königtum. Er kam als ein Kämpfer für den alten Glauben, den die Söhne Israels einst aus der Wüste mitgebracht hatten, als ein Kämpfer gegen den Niedergang von Recht und Sitte, gegen die Anmaßung des Herrschenden und die Vermischung der Religionen. Er war Staatsfeind Nummer eins. Man suchte ihn, man jagte ihn. Immer wieder erschien er plötzlich und fegte unvermutet weg, was ihn störte. Souverän. Kompromisslos.

Aber dann kam der Rückschlag. Der König und sein Hof waren stärker. Auf der Flucht vor den Dolchmännern der Königin, im Negev, warf er sich unter einen Ginsterstrauch, wünschte sich den Tod und sagte: »Ich habe es satt! Mir reicht’s. Ich will sterben. Ich erreiche doch nichts. Ich bin auch nicht stärker als die Propheten vor mir.« Das wollte heißen: Diese Welt, dieses Land, diese Regierung, dieses Volk, das ist alles zusammen ein verdammter Haufe von Schwächlingen und Verbrechern. Wenn ich ihnen das sage, stürzen sie sich von allen Seiten auf mich. Und du? Du Gott? Wo bist du eigentlich? Dir macht es nichts aus, wenn ich zugrunde gehe! Danach schleppte er sich weiter durch den Negev und kam an den Berg Sinai, an den heiligen Berg des Mose. Dort fand er eine Höhle und blieb in ihr über Nacht.

Man kann diese Höhle, diese Zuflucht, mehrfach deuten. Sie war zuerst einfach ein Schutz für einen flüchtenden, verfolgten Menschen. Aber sie war auch das Symbol einer Rückkehr zu den Ursprüngen seines Glaubens, dessen er sich versichern wollte. Und sie war ein Drittes: Elia zog sich aus der lärmenden, bedrohlichen Welt in seine eigene Seele zurück, um seiner selbst und seines Auftrags gewiss zu werden. Gehen wir dem allem ein wenig nach. Als er in der Höhle saß, kam ein Wort von Gott zu ihm: »Was hast du hier zu schaffen, Elia?« Und Elia antwortete: »Ich habe für dich, Gott, geeifert.« Und er klagte über all das, was ihm widerfahren war. Aber Gott entgegnete mit der Weisung: Geh deinen Weg zurück durch die Wüste und tu dein Werk, zu dem ich dich berufen habe. Und Elia tat, was ihm aufgetragen war.

Das ist eine Grund- und Urgeschichte von der Sendung eines Menschen durch Gott. Sie wiederholt sich bis heute als die Geschichte von der Sendung eines Christen in die gegenwärtige Welt.

Wir können mit Elia immer tiefer steigen bis ins dritte Untergeschoss seiner Seele, wo seine Erfahrungen herumliegen, seine Verletzungen, seine Vorwürfe, die er aber nicht so recht gelten lassen kann, und die doch bestimmen, was er tatsächlich tut, wo er alles, das er an sich selbst nicht wahrhaben will, abgelegt hat, die Rumpelkammer von allem, was er verdrängt und vergessen hat. Und am Ende noch tiefer, auf den Grund seiner Seele, von dem die geistlichen Lehrer unserer Kirche immer geredet haben, wo etwas geschieht wie eine Umkehrung, wo ihm ein Licht aufgeht, und von wo er neu und vielleicht ganz anders wieder anfangen kann. Es sind unsere Gedanken, die am Ende uns selbst angehen werden.

Wir gehen also im Seelenhaushalt des Propheten abwärts. Im ersten Untergeschoss ist alles klar. Da hängt an der Wand sein eigenes Porträt, das einen gerechten, friedlichen, geordneten Menschen zeigt, der sich in den Dienst einer großen Sache gestellt hat. Auf dem Tisch stehen Blumen, die ihn trösten sollen darüber, dass die ganze Welt ihn nicht versteht. Wenn die Menschen Augen im Kopf hätten, müssten sie ihn eigentlich zu ihrem König machen. Aber sie wollen ihn totschlagen. Und Gott? Gott wäre eigentlich verpflichtet, ihn vor allem Schaden zu bewahren. Denn Elia hat recht.

Wir steigen ab ins zweite Untergeschoss. An der Tür lesen wir: Hier wohnt Elia, der sich einen anderen Gott wünscht. Wenn wir eintreten, finden wir ihn in einer Ecke sitzen und sich ausdenken, was er mit den Menschen gerne tun würde. Mit diesem verlotterten Haufen, dem man einmal wirklich zeigen müsste, wo die Harke steht. Aber das kann er ja nicht. Das müsste Gott tun. Und wie er so dasitzt und sich ausdenkt, was Gott tun müsste, hört er draußen einen Sturm aufbrausen, der das ganze Menschengesocks wegfegt. Der die Berge zerreißt, auf denen die Burgen der Mächtigen unter den Menschen stehen. Ein Sturm, der sie alle in den Trümmern begräbt. Das, so denkt er sich aus, das ist doch ein Gott, in dessen Rolle zu schlüpfen herrlich wäre.

Und wie er so dasitzt fühlt er, dass in seiner Höhle die Wände zittern. Ein Erdbeben setzt ein. Ja, so wäre das richtig. Gott müsste diese ganze verkommene Menschenwelt in seine großen Hände nehmen und durchschütteln. Und wie er sich weiter mit seinen Tötungswünschen beschäftigt, sieht er einen Blitz aufzucken und hört einen Donnerschlag. Ja, so müsste das gehen. Gott müsste mit dem Feuer seines Gerichts all die Nester der Lügner, der Gewalttäter und Ausbeuter ausbrennen. Er müsste alle Gottlosigkeit und Arroganz ausräuchern. Für einen solchen Gott wollte er der ganzen Welt widerstehen. Aber Gott tut ja nichts. Und er, sein Prophet, steht im Abseits. Und hat immer noch recht.

Und noch einmal steigen wir tiefer ab. An der Tür lesen wir: Hier wohnt der wirkliche Elia. Der Raum ist rundum tapeziert mit Angst. Alles liegt voll Gerümpel. Alles, das er aus seinem Bewusstsein und aus seinem Gedächtnis verdrängt hat. Alles Beschämende, das er nicht wahrhaben will. Und noch tiefer fänden wir all die Masken, mit denen wir uns unter den Menschen bewegen. Wir kämen dazu, zu sehen, wie wir selbst in Wahrheit sind. Was wir auch Gott gegenüber in Wirklichkeit sind. Wie gering unser Beitrag zur Gerechtigkeit oben auf der Erde ist. Wir stießen auf die hundert Widersprüche in uns selbst, die Risse und Klüfte in unserer Seele. Wir fänden, wie sehr wir an allem Bösen, das wir in der Welt bekämpfen, beteiligt sind. Und vielleicht verstünden wir dann, wie wunderbar es ist, dass Gott uns trotz alledem als seine Boten und Sprecher einsetzen will. Wir werden vielleicht entdecken, dass wir noch tiefer steigen können, an den tiefsten Punkt in uns. Als Elia dort unten steht, hört er, dass etwas zu tönen beginnt wie das »stille, sanfte Sausen«, von dem unsere Geschichte erzählt. Und da wusste Elia: Das ist Gott. Das ist der wirkliche Gott. Nicht der erträumte, nicht der ausgedachte. Sondern der, der mich berührt mit seinem leisen, andringenden Wort.

Aber dort, in der Tiefe deiner Seele, wo Gott mit dir spricht, ist nicht dein Aufenthaltsort für dein restliches Leben. Nicht deine Fluchthöhle. Wenn du dem inneren Wort lange genug und genau zuhörst, wirst du hören, wie es sagt: Komm heraus! Komm zu den Menschen heraus und lebe mit ihnen anders. Sie brauchen, dass du weitersagst, was du gehört hast. Komm also heraus mitten in den Jahrmarkt, mitten in den Streit, und halte dabei den Frieden fest, den Gott dir mitgibt. Er gibt dir mit seinem stillen, sanften Wort eine Lebenskraft, die größer ist als deine eigene.

Wenn wir freilich dann an die aktuelle Bedeutung dieser Elia-Geschichte für uns Heutige herankommen wollen, müssen wir einen zweiten Schritt gehen. Wir werden bedenken, dass zwischen Elia und uns, zwischen Elia und der Geschichte der Kirche der Mann aufgetreten ist, nach dem wir uns Christen nennen: Jesus Christus. Wir werden bemerken, dass zwischen dem Geschick des Elia und dem von Jesus Christus eine auffallende Ähnlichkeit besteht.

Als Jesus unter die Mensch trat, um ihnen den freundlichen Willen Gottes anzusagen, um ihnen zu helfen, da stand er nach kurzer Zeit vor der Tatsache, dass die Menschen, jedenfalls die, die das Sagen hatten, seine Botschaft nicht wollten.

Und so geht es häufig den Menschen, die in seinem Dienst einen prophetischen Auftrag erfüllten. Die prophetische Mystik war in den zweitausend Jahren christlicher Geschichte immer wieder ein Ruf zur Sache, wenn die Kirche sich auf Abwegen befand, ein Ruf zurück zum Evangelium, das ein Evangelium für die Armen, die Benachteiligten, die Leidenden ist. Ein Ruf zur Umkehr und zur Verinnerlichung. Fast alle Reformbewegungen in der Geschichte der Kirche kamen aus dem Geist der Mystik. Denn Mystik bedeutet immer zugleich, dass einer sein eigenes Gewissen entdeckte, und dass er sein eigenes, ihm von Gott anvertrautes Wort sprach.

Man spricht heute von vielen Mystikern mit hohem Respekt. Das ist gut. Aber wichtiger ist etwas anderes. Wenn einer unbequem wird oder gar lästig, müssen wir wachsam sein: Denn wir könnten an seinem Wort vorbei hören, das doch vielleicht ein Wort von Gott sein könnte. Wichtig für uns aber ist, dass wir bereit werden, zu hören, was uns nicht wahr scheint, es aber vielleicht doch ist. Wichtig ist für unsere ganze Kirche in allen Konfessionen, dass wir aufschrecken, dass in uns die Alarmglocken schrillen in dem Augenblick, in dem uns von irgendeinem Christen gesagt wird, er sei für die Kirche nicht tragbar. Wer sollte denn einen unbequemen Menschen tragen können, wenn nicht die Kirche?

Aber neben dem Widerstand der Obrigkeit ist ein Zweites für die inneren Erfahrungen eines prophetischen Menschen charakteristisch. Wo bist du, Gott?, schrie Elia. Warum hast du mich verlassen?, schrie Jesus. Charakteristisch ist immer wieder, dass ein besonders erleuchteter Mensch plötzlich in einer tiefen Finsternis versinkt. Und diese dunkle Einsamkeit ohne irgendein Lebenszeichen von Gott kann von fressender Zerstörungskraft sein.

Es gehört beides zur Breite der mystischen Erfahrung: das überwältigende Licht und die tiefe Dunkelheit. Wer aber nun einem Menschen, der an der Erfahrung der Abwesenheit Gottes leidet und dann vielleicht vom Tod Gottes redet, vorwirft, er sei gottlos, der zeigt nur an, dass er nichts verstanden hat.

Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, war einer der großen Mystiker des vergangenen Jahrhunderts, und sein Tagebuch »Zeichen am Weg«, in dem er beschreibt, was während seines Amts in ihm selbst vorging, kann ich jedem empfehlen. Er suchte damals, in den fünfziger Jahren, Gerechtigkeit und Lebenschancen für die eben in die Freiheit entlassenen Kolonien und geriet dabei in Gegensatz zu allerlei wirtschaftlichen und politischen Mächten, die diese Länder nun gerne ausgebeutet hätten, und wusste am Ende, er werde wohl auf irgendeine Weise ums Leben gebracht werden. Er fiel denn auch im Kongo einem Flugzeug-Attentat zum Opfer. Er hat, kurz davor, gesagt:

Glaube ist Gottes Vereinigung mit der Seele
in einer dunklen Nacht.
Des Glaubens Nacht – so dunkel,
dass wir nicht einmal den Glauben suchen dürfen.
Es geschieht in der Gethsemane-Nacht,
wenn die letzten Freunde schlafen,
alle anderen deinen Untergang suchen
und Gott schweigt,
dass die Vereinigung mit ihm sich vollendet.

Was tut Hammarskjöld hier? Er wendet seinen Blick von sich selbst ab. Er richtet ihn auf die Nacht von Gethsemane. Er flüchtet in die Christusgeschichte.

Das Evangelium zeigt uns den Weg aus der Höhle unserer Dunkelheiten und macht uns fähig, ans Licht zu treten und zu sagen, was auf dem Markt unserer Zeit zu sagen ist. Paulus sagt: Christus wird dich erleuchten. Und dir wird klar, wofür du lebst, wofür du stehst. Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit. Und du wirst verwandelt in einen Botschafter für Gott. Deine dunkle Nacht ist zu Ende. Es wird Tag.

Die Meister des spirituellen Lebens sagen unisono: Vergiss, was du selbst leidest. Steh auf und steh denen bei, die zu leiden haben. Tritt denen entgegen, welche die Verhältnisse so lassen wollen, wie sie sind, nämlich so, dass sie Leiden erzeugen. Widersteh der Gleichgültigkeit und der Phantasielosigkeit, der nichts mehr einfällt. Du bist niemand Ehrerbietung schuldig, oder gar Gehorsam, als allein Gott. Darum aber ist für den, der den Weg des Christus gehen will, alles Leiden tief sinnvoll.

Elia hatte das Bild des Christus noch nicht vor Augen, aber er hörte das stille, sanfte Sausen. Warum schlägt denn Christus in seinem Leiden nicht zurück, mindestens mit Worten? Warum hält er Ablehnung, Verurteilung, Spott und Qual aus? Was ist das für eine Kraft, die das durchhält?

Es ist die Kraft des Leisen. Wer Christus kennt, weiß, dass das unselige Regelwerk von Hass und Gegenhass, Gewalt und Gegengewalt nicht anders aus seinen Verknotungen zu lösen ist als auf dem Weg des Verzichts auf Gewalt. Das aber ist bei Christus zu sehen. Dankbar zu sehen. Gewalt muss erlitten werden, soll sie zu Ende kommen. Noch immer ist das Kreuz der Anfang und die Bedingung des Friedens, und es gibt keinen anderen Weg. Diesen Weg unter dem stillen, sanften Wort des Gottesgeistes. Als Kontrastbewegung gewissermaßen zu der Höllenfahrt des Elia durch die verschiedenen Tiefengelasse seiner Seele an den Ort der Begegnung mit dem leisen Gott.

Wenn das aber so ist, dann ist diese Welt unsere Heimat, ob es die kleine ist, in der wir heute leben, oder die große, in die unser Weg uns hinüberführt. Und dann gehen wir diesen unseren Weg im Frieden. Miteinander. Und in großem Vertrauen.